Texte aus dem Jahr 1998
"Der grosse Text" – 1998

I.

Vorspiel

II.

Einleitung

III.

Hannes Kater über seine Arbeit

IV.

Etwas über Kunstwissenschaft und ihre Methoden

V.

Niklas Luhmann

VI.

Drei Fragen

VII.

... und wie machen es die anderen?

VIII.

... und wie halte ich es?

IX.

... und noch ein Beispiel

X.

Anmerkungen
* Aus einem Gespräch zwischen Stephan Schmidt-Wulffen, Hannes Kater, Armin Chodzinski und Hinrich Schmieta.

Veröffentlicht in:
Das innere Leuchten checken – eine Publikation herausgegeben von Armin Chodzinski und Hannes Kater in Folge der Ausstellung Kleine Universen, die von Hannes Kater und Hinrich Schmieta verantwortet wurde.

I. Vorspiel *

Schmidt-Wulffen: Weil sich das Künstlerbild immer stärker verschoben hat, hin zu jemandem, der eine Philosophie - ein philosophisches Fragment - versucht in diese Gesellschaft zu diffundieren. Dies kann er im Museum machen, auf dem Sportplatz, überall sind heute künstlerische Interventionen möglich, aber es geht immer um ein Stück Philosophie, um ein Stück Denken, das unter die Leute gebracht werden soll. Und das macht ein Kurator in ähnlicher Weise. Es geht immer um kulturelle Intervention. Auf dieser Basis ist eine Verständigung viel leichter, weil wir uns über Denkformen verständigen, und die Arbeit steht als Symptom für so eine Denkform.
Kater: Uji ...spacer
Schmidt-Wulffen: Nein?spacer
Kater: Ich bin ein ganz bißchen skeptisch ...spacer
Schmidt-Wulffen: Ja? Warum?spacer
Kater:spacer Ich glaube noch an eine Form von ästhetischer Qualität, die nicht nur mit Denken zu tun hat. Um es ganz pathetisch zu sagen: eine Form von Unsagbarkeit. Es gibt Dinge, die man mit Worten nicht ganz so gut sagen kann, und dies würde ich nicht unbedingt als Denken bezeichnen, das ist etwas anderes ... ich glaube, das Kunst kein intellektuelles Spielzeug ist ...
Schmidt-Wulffen:spacer Wenn ich von Denken rede, rede ich nicht von intellektuellen Reflexionen. Wenn sie arbeiten und sich entscheiden, für das nächste Bild Enkaustik zu verwenden, weil sie eine Flasche Rotwein getrunken haben; das ist keine Reflexion, das ist etwas, das wie zufällig kommt. Sie werden nur vielleicht nach zwei Jahren sehen, daß dieser Übergang von der Ölmalerei zur Enkaustik auf eine gewisse Art und Weise Sinn gemacht hat, die wir gar nicht klären müssen. Das Interessante ist, das was sie getan haben, müssen sie für sich selber irgendwie einholen. Sie müssen sich fragen, was sie gemacht haben. Sie akzeptieren es als einen Schritt.

In diesem Sinne spreche ich von Denken. Das kann man Denken nennen, das kann man Handlung nennen, aber wir haben es immer mit strukturierten Abläufen zu tun. Gucken sie sich mal den Werkaufbau von Herrn Polke an, der ist unglaublich überzeugend, weil er immer wieder in dem genau richtigen Moment das Richtige getan hat. Eine hohe operative Intelligenz. Die intellektuellen Konstruktionen sind da irgendwie wie der Wagenheber beim Auto. Wir sind alles Spezialisten, wir wollen wissen, wie das Auto funktioniert, müssen es anheben, drunter gucken, uns was überlegen ... aber klar, das Kriterium, was zählt, ist, daß das Auto fährt.


II. Einleitung

Im richtigen Moment das Richtige tun. Im genau richtigen Moment. Das sagt sich so leicht - wohl auch leichter für jemanden, der selbst "nur" Ausstellungen verantwortet und Texte produziert - und nicht (auch) Kunst macht.

Das im Moment für mich Richtige tun, ist einen Text zu schreiben... einen Text  - der hier jetzt in seinen Anfängen vorliegt. Ein Text über meine Kunst. Über das Betrachten von Kunst. Ein Text über das Schreiben über Kunst.

Das der Text skizzenhaft und fragmentarisch ist, ... nun, was zählt, ist, dass 'das Auto fährt.' Und so fährt es für mich am besten.

Als Künstler sehe ich durchaus die Notwendigkeit der Versprachlichung meiner Position, meines Arbeitsansatzes, allerdings habe ich nicht umsonst mein Zeichen - und Zeichnungssystem - entwickelt und arbeite an einem "Übersetzungsprogramm".

Ein Grund für meine Schwierigkeit, Texte über meine Arbeit zu schreiben, besteht darin, daß neben einer reflektierten und analytischen Arbeitsweise als eigentliche Grundlage eine halb- oder unterbewußte, mich selbst überraschende, Arbeitsweise steht.


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III. Hannes Kater über seine Arbeit

Ich schreibe hier über 4 Aspekte meiner Arbeit:

1. Kunst als Versuch über Verbindlichkeit von Zeichen

2. Kunst über und für ein Rollenmodell eines Künstlers

3. Kunst als exemplarische Selbstuntersuchung / Selbsterfahrung

4. Kunst in der ästhetischen Tradition der klassischen Moderne und im Spannungsfeld der aktuellen ästhetischen Debatten


1.
Zeichen sind Zeichen. Und wollen als solche gedeutet werden.
Ist alles was erscheint ein Zeichen? Zumindest kann man für alles ein Zeichen finden, erfinden.

Buchstaben sind Zeichen, die sich, wenn man sich darauf versteht, zu Worten ordnen und dann lesen lassen. Sie haben eine bestimmte Reihenfolge. Die Buchstaben erzählen dann aber keine Geschichte, sondern sie verweisen auf Worte, die, wenn man es richtig anstellt, eine Geschichte erzählen - oder sie verweisen auf Begriffe.

Meine Zeichen entstehen nacheinander. Meine Zeichen sind nicht nacheinander gesetzt, sondern beziehen sich auf einen Raum, z.B. auf die Papierfläche und aufeinander. Es gibt keine eindeutige Reihenfolge der Zeichen.
Jedes Zeichen erzählt etwas, verweist auf etwas.
(Die subjektive Betrachtung der Dinge ist eine absolute).

Ein Zeichen ist ein Etwas, was man z.B. Zeichen nennen kann – und steht erst mal für nichts.
(Die objektive Betrachtung der Dinge ist eine absolute).


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Abbildung 1
2.
Mich interessiert ein künstlerisches Handeln, bei dem die Trennung von Autor und Rezipient thematisiert, aber nicht aufgehoben wird. Indem ich als Künstler ein Modell, ein Verfahren anbiete, das vom Rezipienten zwar nicht unbedingt selbst umgesetzt, aber doch sehr weit nachvollzogen werden kann, möchte ich die Trennungsgrenze in Richtung Rezipient verschieben, ihn mehr einbeziehen und so ein deutliches Kommunikationsangebot machen (siehe Abbildung 1).

Diese angestrebte Nähe macht die Gesellschaft in der ich handle, bzw. Mitglieder dieser Gesellschaft, zu meinem Gegenüber.


Abbildung 2
Entwicklung des Darstellers für "Hirn"
3.
Seit gut 2 Jahren verfolge ich ernsthaft, was für Linien ich auf Papier mache.
Die Rolle von "Hirn" kann ganz unterschiedlich sein. Es kann für ein verarbeiten von Informationen stehen, für ein sich erinnern, für grübeln usw. Die Komparsen und Requisiten geben über die Bedeutung näheren Aufschluß.

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Ich traf für meine Arbeit folgende Entscheidungen:
- ich zeichne mit Farbfilzern
- ich beschränke meine Farbpalette
  (auf Dunkelrot / Dunkelgrün / Orange/ Hell- und Dunkelblau. Unter
  bestimmten Umständen kommen Schwarz und Violett dazu.)
- mein Arbeitsformat ist A4 oder A3.
- ich kopiere meine Zeichnungen mit einem Farbkopierer
- bei Bedarf vergrößere ich die Zeichnungen über einen Kopierer
  oder mit Hilfe eines Projektors.
- ich zeichne nicht vor.

Ich möchte diese Entscheidungen regelmäßig überprüfen und wenn nötig andere Vorgaben einführen.

Zeichnen
- ist für mich eine Form nachzudenken, ein Selbstgespräch zu führen.
- befreit mich von Kopfschmerzen und entspannt.
- versetzt mich in einen Zustand, der mit dem Begriff "Konzentration"
  nur unzureichend beschrieben ist.

Ich möchte Zeichnen als Handlungsform in unterschiedlichen Zusammenhängen ausprobieren.


4.
Die ästhetische Oberfläche meiner Arbeiten spiegelt die alltäglichen und selbstverständlichen technischen Möglichkeiten meiner Zeit. Die Qualität der Oberfläche der Farbkopien ist wichtig, allerdings sorgt die robuste Zeichenhaftigkeit der Arbeiten dafür, daß ein Knick oder Fleck sie nicht zerstört.

Obwohl ich mich mit der klassischen Moderne auseinandergesetzt habe, werde ich nicht so weit gehen und alle ihre Einflüsse ablehnen. Unbestreitbar wirken nach:
- die Untersuchung einer Linie als Linie.
- die Idee einer Komposition, bzw. Nichtkomposition.
Ich arbeite daran, diese Einflüsse nicht unreflektiert einfließen zu lassen.

Ich möchte diese Aspekte meiner Arbeit auch außerhalb Deutschlands mit Menschen, deren künstlerische Sozialisation nicht in Deutschland stattfand, diskutieren.



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Wirklich wichtig ist mir:
- eine Geschichte, Geschichten zu erzählen.
- verschiedene Raum- und Zeitebenen dafür bereitzustellen
- die Möglichkeit des Kommentars in der Zeichnung über Teile der
  Zeichnung, also eine Metaebene einführen zu können.
- ausreichend Vokabular zur Verfügung zu haben.
- einen Ort für meine Arbeit zu finden.
- einen Ort mit meiner Arbeit zu definieren.
- einen Ort mit meiner Arbeit zu behaupten.










* Meine Quelle für dieses spannende Zitat weiß nur noch, daß es von einem adligen Mannequin in einem Interview sinngemäß so formuliert worden ist.
* Mehr zum Thema Darsteller.
Die Punkte a) bis i) als "linearer" Text über meine Arbeit:

a Ich habe eine Zeichnung gemacht.
Jetzt suche ich die Geschichte zu dieser Zeichnung.
Muß suchen, weil nichts mehr Geschichte hat.
Aber ich Geschichte haben will.
Man kann nicht leben ohne Geschichte

Es gab Geschichte, früher. Zumindest als Idee. Schöne Idee.
(Schön ist, wer eine schöne Geschichte hat.
*)

"Nein", sagte er. "Nein... ", sagte sie, "so ein Zufall!"
(2 treffen sich, haben sich getroffen).


b Wenn ich zeichne, produziere ich Zeichen.
Zeichen deuten auf Zeichen und Zeichen deuten auf Bedeutung.
Ich setze Zeichen in Relation, verknüpfe sie und schaffe so Verhältnisse.
Zeichen, die sich aufdrängen, verwende ich häufiger und entwickele sie weiter. Ich nenne sie Darsteller.*

Wichtiger als jedes Deutungsresultat eines Zeichensystems einer meiner Zeichnungen – es gibt keine sichere endgültige Deutung für eine einzelne Zeichnung; es gibt keine vollständige Legende zu den Zeichen einer einzelnen Zeichnung – ist mir die Erkenntnis des Deutungsverfahrens, das Grundlage für die Entscheidungen während des Zeichnens ist.

Dieses Zeichnungsverfahren bildet meine Arbeit und zeigt sich in den Zeichnungen. Auf dem Zeichenblatt wird aus dem Verfahren, einmal in Gang gesetzt, ein Erfahren.


c "Pfeile kann man immer malen."
Dieser Satz beinhaltet auch gleich den wichtigsten Hinweis, wie Pfeile anzufertigen sind:
Pfeile darf man nicht zeichnen. Man muß sie malen.

Gezeichnete Pfeile sind verquälte Pfeile und wer mag die schon.
Zudem entstehen, wenn so ein Pfeilmacher sich quält, eh nicht viele Pfeile. Es stockt die Produktion, was immerhin den Vorteil hat, daß die verquälten Pfeile einem nicht die Laune verderben.

Wichtig ist also das richtige Tempo.
Linien sind nicht zu zeichnen, sondern zu malen.
Und: man muß Linien so langsam malend locken und ziehen, daß die Augen immer auf der Höhe des Geschehens bleiben und man so, lansam und aufmerksam genug, immer die richtigen Entscheidungen treffen kann.


d Die Rolle des Zusammensetzens von Nichtzusammengehörigem, nicht zueinander Passendem, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Vom Geschichtenerzählen hat sich Godard im Grunde schon längst verabschiedet und ist unter die Dichter gegangen. Seine Arbeiten lassen sich nur noch wie Gedichte genießen, bei denen man auf das Echo wartet, das die Seele von den Bildern zurückwirft.
Man erinnere sich nicht mehr, sagt er in den Histoire(s), an das Was, Wie und Warum der Filme Hitchcocks, aber "Man erinnert sich an ein Auto in der Wüste, ein Glas Milch, eine Brille, einen Schlüsselbund, weil mit ihnen und durch sie Alfred Hitchcock gelingt, woran Alexander der Große, Julius Caesar, Napoleon gescheitert sind – Kontrolle über die Welt zu erlangen."


e Die Natur des Gegenstands selbst nötigt mich, die Zeichenwelt kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen; daß die Zeichen in ihr in einem verwickelten Netz zueinander stehen, besser aufgehoben in vielen kleinen Arbeiten. Die gleichen Punkte - oder beinahe die gleichen – werden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt, umkreist.
Eine Vorstellung von Netzen, mehrerer Netze die sich durchdringen... Netzstränge werden zu Themen – bestimmend bei der Präsentation meiner Zeichnungen.


f Vorhin gab es diese Zeichnung noch nicht.
Die Zeit, in der ich sie gemacht habe ist vorbei.
Ohne Geschichte vorbei.
Ich – zum Glück gab es diese Zeichnung...
ich – wenn ich nicht diese Zeichnung schauen könnte...
ich würde nichts begreifen.


g Jede Zeichnung bringt etwas zu Ende.
Zu einem kleinen Ende. Und jedes kleine Ende bringt etwas zur Kenntlichkeit.
Und dann?
Dann fange ich eine neue Zeichnung an.
Und mache mir Gedanken, wie ich alles ordne, anordne - bis eine Ordnung ein kleines Ende ist.
Große Enden gibt es nicht.


h Aufzeichnungssysteme (und Aufzeichnungstechniken).


i Ich habe eine Neigung zu komplexen, verwickelten Zeichnungen: Überfluß an Schönheit, Überfluß an komprimierter Wahrnehmung: Unerschöpflichkeit... da muß doch was eingezeichnet sein, gespeichert sein in so einer Zeichnung.
Es zeichnet eine Zeichnung, wenn ich in Verbindung mit ihr war, diese auf. Doppelt auf: zum einen zeichnet sie sich ein, beeinflußt das Ergebnis. Und zum anderen wird die Zeichnung ein Speicher, ein Speicher von Gefühlen, die ich zu der Zeit, als ich die Zeichnung machte, hatte... mit der Möglichkeit der Erinnerung beim Wiederansehen der Zeichnung.
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IV. Etwas über Kunstwissenschaft und ihre Methoden

"Fast alle gängigen Methoden der Kunstgeschichte wurden für die Interpretation alter Kunst entwickelt. Versuche, damit aktuelle Kunst zu interpretieren, bleiben fruchtlos".
[1]

Wie würde die gängige kunsthistorische Besprechung meiner Zeichnungen aussehen?

Aus der Sicht der Stilkritik könnte man über meine Arbeit folgendes formulieren: Eine große Anzahl von Zeichnungen auf Papier, Format Din A4, überschaubar eingesetztes Farbspektrum (Dunkelrot, Hellblau, Dunkelgrün, Orange und seltener Dunkelblau und Schwarz), Farbfilzstifte, die fertigen Zeichnungen werden kopiert. Es scheint sich um eine Symbolwelt zu handeln, oft meint man Köpfe, Lungen, Augen und Gefäße (Töpfe) zu erkennen, während anderes nicht entschlüsselbar ist. Pfeile verbinden oder weisen auf etwas hin usw.


Eine stilkritische Beschreibung soll einen Stil und eine persönliche Handschrift identifizieren und somit eine Zuschreibung ermöglichen. Dies gelingt hier nur bedingt. Die Zeichnungen haben sicherlich einen hohen Wiedererkennungswert, sind also leicht mir zuzuschreiben. Sie wirken aber auch zugleich recht anonym in der Machart, von anderen leicht imitierbar, weil eine persönliche Handschrift (hier jetzt im klassischen Sinne) vermieden wird und die Zeichnungen durch das Kopieren noch mal anonymisiert werden.

Viele Betrachter fragen mich, ob sie mit dem Computer erstellt sind. Eine Einordnung in die Geschichte der Zeichenkunst ist auch schlecht möglich, da die Arbeiten kaum mit etwas aus der bisherigen Geschichte der Zeichenkunst zu vergleichen sind.

Noch nicht berücksichtigt bei diesem Beispiel ist die Form der Präsentation der Zeichnungen im Raum, die Installation, mit der die Stilkritik auch Probleme haben dürfte.


Auch ikonographisch und ikonologisch lassen sich die Zeichnungen nur ansatzweise analysieren, da höchstens einzelne meiner Symbole (von mir Darsteller genannt) sich auf Vorbilder aus der Kunst- und Kultgeschichte zurückführen lassen: meine Herzform etwa orientiert sich an ägyptischen Hyroglyphen.


Normalerweise beziehen sich meine Formfindungen hauptsächlich auf die Geschichte meiner Formfindungen, sind also während der Arbeit im Laufe der Zeit entstanden und von mir weiterentwickelt worden. Die Arbeiten verweisen also hauptsächlich auf sich selbst, man könnte höchstens versuchen, von den Zeichnungen ein eigenes ikonographisches und ikonologisches System abzuleiten; dies hätte dann aber nichts (bzw. nur sehr wenig) mit anderen Kunstwerken zu tun.

(ich vermeide – wenn es geht – die Begriffe Kunst und Kunstwerk für meine Arbeiten...)


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"Wenn die gängigen Analyseverfahren scheitern, ist es in der Kunstgeschichte üblich, das zu interpretierende Kunstwerk mit anderen Kunstwerken in Verbindung zu bringen, die sich der Deutung nicht entziehen." [2]

Mir fällt erst mal keine Analogie zu einem anderen Kunstwerk ein...
Man könnte sich jetzt entscheiden, daß es sich gar nicht um Kunst handelt und so das Problem lösen – wobei die Frage bleibt, was es denn dann ist. Wenn man sich aber entscheidet, diese Arbeiten für Kunst zu halten, dann muß eine passende Terminologie erst noch entwickelt werden.

"Wissenschaft betreiben heißt, eine Methode zur Wissenserzeugung anzuwenden, dieses Wissen zu ordnen und die theoretischen Ausgangspunkte weiterzuentwickeln. Als Gesamtheit zusammenhängender und einander bestätigender Aussagen läßt sich Wissenschaft als Paradigma bezeichnen. Das kunsthistorische Paradigma wäre in diesem Sinne also das System zusammenhängender und einander ergänzender Absprachen über Objekte, Forschungsthemen, Methoden und Zielsetzungen der Kunstgeschichte. ... Veränderungen eines Paradigmas entstehen nicht durch neue Erkenntnisse oder Informationen, sondern durch die Anwendung neuer Theorien und Methoden.

Neue Informationen sind erst verfügbar, nachdem neue Theorien und Methoden entwickelt wurden. Die schwierig zu trennenden Begriffe "Methode" und "Theorie" werden dabei oft miteinander verwechselt. Wörtlich übersetzt bedeutet "Methode" den Weg, der in der theoriebestimmten Richtung begangen wird."
[3]

Nun ist aber eine Methode – die Methode – eine "Erscheinungsform" der Verallgemeinerung, es kommt nicht mehr auf die besonderen und unverwechselbaren Umstände an.



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V. Niklas Luhmann

Neu hinzugekommen und dabei in die Kunstgeschichte integriert zu werden, ist ein systemtheoretischer Ansatz, genauer gesagt die funktionalistische Theorie sozialer Systeme und der damit verbundene Kommunikationsbegriff des Soziologen Niklas Luhmann. Ihm ist, wie anderen systemtheoretischen Ansätzen (etwa dem französischen Strukturalismus, der Semiotik, dem Dekonstruktivismus und dem radikalen Konstruktivismus) ein anti-ontologischer Erkenntnisansatz eigen.

Allen gemeinsam ist also der Standpunkt, daß eine objektive Welt ("Objektwelt") existiert, wir diese jedoch nicht objektiv (oder ontologisch) erkennen, wahrnehmen können. Die Objekte existieren nicht außerhalb der menschlichen Wahrnehmung - jedenfalls nicht im kognitiven Sinne, auch wenn sie scheinbar meßbar sind; sind doch auch die Ergebnisse dieser Meßverfahren erkenntnisabhängig. Die Welt erkennen, bedeutet über sie und die Konstrukte, die man sich von ihr gemacht hat, zu kommunizieren.

Eine Lösung könnte die "Nichtzuständigkeit" der Kunstgeschichte sein. Kunstwerke - also auch meine Arbeit - sind nicht identisch mit Kunstgeschichte, sondern ihr Objekt und können so Anlaß für wissenschaftliche Diskussionen sein.

Kitty Zijlmans und Marlite Halbertsma formulieren es so: "Diese Diskussionen spielen sich jedoch zwischen Menschen ab und nicht zwischen Menschen und Kunstwerken. Zwar kann der Künstler/die Künstlerin an einer derartigen Diskussion teilnehmen, er ähnelt aber eher dem Patienten, der vom Arzt über seine Krankheit befragt wird. Bekanntlich ist ein Arzt ja auch mehr an der Krankheit eines Patienten als an dessen Person interessiert." [4]

Weiter schreiben sie: "Im Rahmen der Kunstgeschichte beinhaltet "Theorie" die Frage nach dem historischen Charakter der Kunst, der in den Kunstwerken zum Ausdruck kommt. Dabei sollte Theorie hier nicht mit Kunsttheorie, Kunstkritik oder Ästhetik vermengt werden." [5]

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Sie definieren dann Kunsttheorie als die "Gesamtheit an praktikablen Regeln für die Kunst bzw. die Äußerungen von Künstlern, die ihre eigenen Werke erläutern. Dabei soll Kunst nicht historisch erklärt, sondern anwendbar gemacht werden." [6]

Nach Luhmann könnte man formulieren, die Kunstgeschichtsschreibung beschreibt bestimmte Entwicklungen im System Kunst vom System Wissenschaft aus. Und je nachdem, welchen wissenschaftlichen Ausgangspunkt man wählt – Stilgeschichte, Ikonographie, Ideologiekritik, Rezeptionsästhetik, Dekonstruktivismus, Semiotik, Systemtheorie usw. – liegt der Schwerpunkt anders, wird über Kunst anders geschrieben, sie anders beschrieben. Dabei ist jeder Ansatz, der seinen Ausgangspunkt selbst reflektiert, akzeptabel.

Hier möchte ich mit meiner Kritik ansetzen: wenn man mit dem "System"-Begriff operiert, mit dem Begriff "System Kunst", dann halte ich unter dem Aspekt der Textproduktion über Kunst, das "System Kunst", eine Differenzierung für notwendig:
- in ein "System Kunstproduzenten" [7]
- und ein "System Kunstdistribution"
weil ich glaube, daß diese Systeme unterschiedliche Texte produzieren und unterschiedliche Ansprüche an Texte stellen.

Das "System Kunstdistrubition" ließe sich weiter differenzieren in:
- "Ausstellungs-System"
- "Kunstkritik-System"
- "Kunstwissenschafts-System"
- "Kunst und Philosophie-System"
- "Kunstvermittlungs-System"
-  usw.
die natürlich alle zum "System Kunst" gehören, aber jeweils andere Texte produzieren für jeweils ihre Bedürfnisse und Aufgaben und sie auch unter anderen, jeweils spezifischen, Bedingungen verhandeln.

Kurz gesagt: ich vermisse Texte über Kunst, die meinen Ansatz als Kunstproduzent reflektieren, die aus der Perspektive des Produzenten geschrieben sind. Texte, die nach der Definition von Marlite Halbertsma und Kitty Zijlmans kunsttheoretische Texte zu nennen wären, die meine Wahrnehmung von Welt – eben aus der Perspektive des Kunstproduzenten – verhandeln.
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Ich schreibe nicht aus der Perspektive eines Kunstwissenschaftlers oder Kritikers, sondern aus der Position eines Produzierenden ("Künstlers"); die Textkategorie ist also Kunsttheorie oder Künstlertexte. Schreibanlaß ist neben der Unzufriedenheit mit den vorhandenen Texten auch der Wunsch, sich für die letzte Hausarbeit vor dem Diplom Freie Kunst – auch da kann man ein Diplom machen – mit einem für mich spannenden Thema auseinanderzusetzen.



VI. Drei Fragen

Der von Luhmann vertretene Ansatz verneint die ontologische Existenz von Kunst. Kunst ist danach eine Kommunikationskategorie und nur dann erkennbar, wenn über sie kommuniziert wird. Ausschlaggebend dafür, ob ein Objekt Kunst ist oder nicht, scheint also, ob und welche Rolle es in der kunstwissenschaftlichen Debatte spielt. Dabei wird die Kommunikation unter Künstlern über ihre Arbeit vergessen. Ist etwas nicht dann Kunst, wenn es im "System Kunstproduzenten" als Kunst verhandelt wird? Zumindest aus der Perspektive des Kunstproduzenten?

Die nächste Frage:
Wenn Kunst eine Kommunikationkategorie ist, mit wem möchte der Kunstproduzent dann idealer Weise kommunizieren, mit und über sein Objekt? (Wenn man mal eben nicht nur an den "klassischen" Rezipienten denkt...) Die wenigsten Künstler verfolgen ernsthaft das Modell "Popstar", wollen also nicht mit der ganzen Welt kommunizieren (wegen des unklaren Kommunikationsbegriffs [8] : er kommuniziert sich der ganzen Welt), sondern richten sich an sehr wenige Menschen, meistens Künstler (-freunde).

Der Erfolg im System Kunst führt nicht unbedingt zu einer intensiveren Auseinandersetzung über die eigene Arbeit, also nicht zu einer besseren Kommunikation im Sinne des Künstlers. Viele Betrachter bedeuten eben nicht unbedingt, dass diese die Arbeiten auch im Sinne des Künstlers (oder zumindest produktiv für den Künstler) verstehen.

Um es nach Luhman zu formulieren: Wer Beträge zu "Themen" (in diesem Fall zur Kommunikationskategorie "Kunst", Unterkategorie "Kunstproduzenten") liefert, bezieht sich/sie auf vorangegangene "spezifische" Kommunikationsprozesse und orientiert sich/sie an künftig zu erwartende Kommunikationsprozesse.

Oder um es mit S.J. Schmidt [9] zu sagen: Medienangebote "beziehen sich" auf Medienangebote. Demnach würde sich ein Kunstproduzent in erster Linie an andere Kunstproduzenten richten (richten müssen).


Und wenn nun der Künstler erst (im Idealfall – oft ja auch sehr viel später) im Tun begreift, was er da macht, müßten dann nicht auch die Dinge, die er herstellt auf eine ähnliche Art und Weise betrachtet werden? Kann man mit einer festgelegten Methode der Bildbetrachtung wirklich zu befriedigenden Ergebnissen kommen? Und: folgt aus dem vorher formulierten nicht, daß es unterschiedlich sinnvolle Bildbetrachtungsweisen für Produzenten und Rezipienten gibt?

Muß nicht dann auch für jede Arbeit eine eigne Betrachtungsweise, entdeckt, entwickelt, erfunden werden – zumindest für den Produzenten? Braucht es nicht (wenn überhaupt) eine Methode, die diese spezielle Methode (Betrachtungsweise – weil es für Einzelfälle keine Methoden gibt...) für die jeweilige Arbeit sucht? Also eine Art Meta-Methode?

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"It's a long way to Tipperary. [...] Jede Regel hat ihre Ausnahme, zweifellos. Also regelmäßig. Deshalb höchste Vorsicht: jede Regel ist als Ausnahme zu setzen, den die Regel ist die Ausnahme. (Wichtige Regel!)... Es gibt nur relative Feststellungen von relativen Zusammenhängen. Und auch die gibt es nicht." [10]


VII. ... und wie machen es die anderen?

Eine andere Möglichkeit, die ich sehe, ist sich bei den Texten über Arbeiten umzusehen, die der meinen verwandt sind (für mich zu seien scheinen). Ich bin zwei Mal (bis jetzt) fündig geworden.

Im ersten Fall habe ich einen Text (ein ganzes Buch) von
Alexander Roob gefunden, daß mir sehr gut gefallen hat und der auch Produzent von Kunst ist. Seine Zeichnungen habe ich aber erst nach der Lektüre des Buches kennengelernt. Und war etwas überrascht, enttäuscht, wie jemand, dessen Texte über seine Arbeit, die mir so gut gefallen hatten, solche, mich eher langweilenden, Zeichnungen machen konnte. Ich wende sein Ideologie – leicht modifiziert – trotzdem Versuchsweise auf meine Zeichnungen an.

* Hartmann war der einzige Künstler, den ich unter den Stichworten Hieroglyphen, Bildzeichen, Zeichensprache, Symbolsprache, Bildersprache und Bildsprache im Netz (1998) gefunden habe.
Im zweiten Fall habe ich im Internet unter dem Stichwort Hieroglyphen den Zeichner Werner Hartmann gefunden*, dessen Arbeiten eine gewisse Verwandtschaft – wenn man sie rein formal betrachtet – zu den meinen aufweisen und einen Text darüber von Heini Ringger. Der ist offensichtlich ein Schreiber und kein Kunstproduzent. Ich werde später (hier) Auszüge aus diesem Text vorstellen.

Zurück zum ersten Fall: Ich benutze das Konzept von Alexander Roob [11], um auf meine Zeichnungen einen anderen Blick werfen zu können. Das auf mich angepaßte Programm sieht so aus:


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* Da schreibt man bei einem eine Hausarbeit und findet kurz vor Schluß dies:

"Die 'geistige Wachsamkeit' und 'Nüchternheit' muß eine auf alles und nichts gerichtete Beobachtung, eine unbestimmte, indifferente Wahrnehmung sein. Nur so ist sie geistesgegenwärtig. Und wenn Gott die unendliche Sphäre ist, deren Mittelpunkt überall ist, also kein Punkt sich als Mittelpunkt vor einem anderen auszeichnet, wie Nikolas von Kues sagt, dann beruht auch die Gotteserkenntnis auf einer indifferenten Wahrnehmung.

Strukturell ähnlich wie diese auf nichts fixierte Wahrnehmung und Wachsamkeit scheint mir die Ästhetik der Avantgarde-Kunst zu sein. Auch sie ist eine Ästhetik der Indifferenz. Das heißt: Indem die Schönheit als etwas Ausgezeichnetes gleichgültig wird, öffnet sich der Blick, und dem indifferent gewordenen Blick wird alles gleich gültig, gleich schön." [12]
a Die monadologische Abgeschlossenheit und Vollständigkeit ist jeder Zeichnung eigen.

b Gleichzeitig gibt es eine synaptische Offenheit nach allen Richtungen, im Sinne des Transitorisch-Prozessualen zu anderen Zeichnungen – klingt wiedersprüchlich, meint aber in erster Linie, daß jede Zeichnung für sich selbst überlebensfähig, also vollständig ist, zugleich aber eine sinnvolle Anschlußfähigkeit zu anderen Zeichnungen hat. Wie ein erwachsener Mensch für sich selbst sorgen und trotzdem eine Liebesbeziehung eingehen kann. Also nicht aus kleinkindlichem Versorgungsbedürfnis auf eine Mutterliebe angewiesen ist. Godard: 1+1=3 (ich glaube: one plus one...).

c Die einzelne Zeichnung ist Teil eines zentrumslosen Gefüges, eines pluralistischen Multiversums mit offenen Enden, nach allen Seiten weiter wachsend.

d Dieses Multiversum ist ständig im Aufbau, ständig im Abbruch.
Abbruch klingt ein bißchen hart, sagen wir lieber, es ist ständig im Umbau, wird immer modifiziert. Es ist darauf zu achten, daß der Umbaufaktor nicht zu groß ist und so zu viel Kraft verloren geht (Unsicherheit/Krise), daß er aber auch nicht zu gering ist. Mit ein paar schicken Begriffen: es gibt eine ständige Dekomposition, Rekonstruktion und Extension.

e Was für die Struktur des gesamten Multiversums (Polyversums?) gilt, gilt auch für die Struktur der einzelnen Zeichnungen: alle Details sind gleich gültig und gleich wertig. Es gibt keine sekundären Details.
Dies wohl eher eine Utopie.


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VIII. ... und wie halte ich es?

Dieses Konzept von Roob gefällt mir, weil es – scheinbar wissenschaftlich – auch erstaunlich gut mein Handeln beschreibt. Ich erlebe mein Zeichnen und den Umgang mit den Zeichnungen (auch) so.

Jemand formulierte mal: Vielleicht ist es deine Suche nach Wahrheit. So was können auch wohlmeinende Menschen sagen... also würge ich nur kurz und stelle die naheliegende Frage: Wahrheit? Welche Wahrheit?

Für mich geht es nur so: Die Suche nach was, was ich zur Not bereit bin, Wahrheit zu nennen, meine Wahrheit... einer temporären Wahrheit, die jetzt, vielleicht auch gestern schon, richtig zu sein scheint. Längere Zeiträume sind nicht zu überblicken. "Wahrheit" als eine Bezeichnung, die für mein Gefüge, meine Art zu Verstehen, die Dinge um mich rum zu interpretieren und zu ordnen, steht.

Und dabei stoße ich darauf – dabei... wenn ich mir das näher angucke meint das jetzt, jetzt im Augenblick – , daß es nicht ein zentrales Thema, die alles erklärende Formel, sondern gleich gültige – zumindest aus einem zeitlichen Abstand, also reflektierend betrachtet – Themen gibt, daß es keine Gedankenstraßen gibt, die einmal angelegt und befestigt geistig zu befahren, abzufahren sind, als wollte ich zur Arbeit fahren (zum festgelegten Ziel), da nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg dahin sich verändern. Natürlich kartographiere ich im Laufe der Zeit meine Reisewege, versuche es zumindest, aber sie bleiben mir seltsam fern, diese Karten der geistigen Reisen.

Eine Kontinuität, eine Sicherheit will sich nicht einstellen. Eigentlich startet man immer wieder bei Null, ist man versucht zu sagen. Was so natürlich nicht stimmt. Was sich definiert, ansatzweise formuliert - auch wenn es immer wieder modifiziert wird - sind bestimmte Strukturen, die ich - für mich selbst - emotionale nenne, mir wohl darüber im klaren, daß dieses Wort Mißverständnisse auslöst. Diese Strukturen helfen bei Entscheidungen, wobei die Frage zu klären bleibt, ob es freie Entscheidungen sind. (Ich glaube eher nicht).

Das führt zu der Frage, was ist eigentlich frei. Und weiter: all diese Begriffe, die vermeintlich kurz und knapp objektiv etwas benennen, wie funktionieren die eigentlich? Sind sie nicht leer und unpräzis und – dies am schlimmsten – grob vereinfachend? Ich glaube – anstatt an solche Begriffe (frei, autonom, ...), statt an eines Begriffes - mehr an Erzählungen (Ich-Erzählungen), eine Erzählung für eine Situation, einen Moment. So eine Erzählung kann man auf unterschiedliche Weisen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen vortragen. Neben der Rede und Texten gibt es zum Beispiel die Möglichkeit zu zeichnen, auf meine Art zu zeichnen. Beim Zeichnen kann ich sogar mir selbst etwas erzählen...

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Diese Erzählungen gruppieren sich zu Gruppen, umkreisen aus verschiedenen Blickwinkeln, ausgehend von verschiedenen Anlässen, zu verschiedenen Zeiten entstanden, sich bewußt aufeinander beziehend oder sich gegenseitig ignorierend, ein Thema, das nicht auf den Punkt zu bringen ist. Denn dann hätte man es grob entstellt und sinnentleert.

Und dieses Thema – das also nicht genau festzumachen ist – hat mit anderen Themen zu tun, gesellt sich also zu weiteren Themen, die so zusammen Themengefüge bilden (indem sie ähnlich oder sehr verschieden voneinander scheinen) in einem Moment, der der Moment sei, in dem man hinguckt, in dem man was zeigen will und also einfach etwas rausgreift und eine Geschichte erzählt, eine neue Geschichte macht aus den anderen Geschichten (– was nur in Ausnahmefällen zu einer Meta-Geschichte, zu einer Geschichte über Geschichten, führt).
Und dies, weil man ein Mensch ist und nicht allein auf der Welt.(!)

Und wenn jemand meint, ein solches Handeln sei nicht ausreichend verantwortet, bleibt mir nur, darauf hinzuweisen, daß ich andere Handlungsweisen noch verantwortungsloser finde.







* Zum Beispiel das Prinzip "Stammbaum": einmal entwickeltes wird immer wieder als Baustein benutzt, als selbstverständlich vorausgesetzt. Auch wenn die damalige Entscheidungsfindung durch Willkür oder Zufall geprägt war, einmal Geschichte geworden leben sie zäh fort, teilweise ganz genießerisch erfahren und eingesetzt. Was ist absurder, als ein Zeichen, was recht konkret an ein Croissant erinnert, als Zeichen für etwas "Gehirn-iges" zu benutzen. Probleme habe ich aber damit keine. Es hat sich auch nicht durch nachdenken entwickelt, es ist gekommen, gewachsen, bot sich an, war logisch, naheliegend und wurde ganz selbstverständlich in meinen Kosmos aufgenommen. Dies sind mit die schönsten Momente. Ich nenne es - auch für diesen Fall - "In the mood" sein, in Ermangelung eines besseren Begriffes. Fraglos erfahre ich mich, fühle mich heil und ganz und eins - mit dem was ich tue, fühle. Und sehe durchaus die Notwendigkeit solche Zustände aufzusuchen, damit es mir gut geht. [14]
Und, zum Schluß, als Antwort auf den Vorwurf, so ein System (mein System) funktioniere nur selbstreferenziell, noch diese Anmerkung: Wenn ich meine, daß letztendlich jeder seine Wahrheit hat und daß vermeintlich objektive Begriffe bullshit sind – jetzt etwas verkürzt formuliert – dann kann es eigentlich nur darauf ankommen, ein in sich folgerichtiges, gut funktionierendes System – also diese Wahrheit [13] – zu zeigen und nachvollziehbar zu machen.
Also hochgradig selbstreferenziell zu sein.
*

Wie man aus Zeichnungen eine Welt macht... wie sehr die Zeichnungen für mich zur Welt geworden sind... darüber mag ich nichts sagen und habe doch zugleich das Gefühl mich entlasten, mich rechtfertigen zu müssen dafür - daß ich egozentrisch und asozial und noch dazu verrückt bin.

Dilemma:
Kunst hat – gerade heute (ja ein Klischee, aber es stimmt) - mit Macht zu tun; keine Macht zu haben, nichts in den Händen zu halten, niemanden Anlaß zu Neid und Eifersucht zu geben ist für mich aber Grundlage für ein unbefangenes Sehen und damit auch für die "richtige" Zeichnung – ausgeführt – vorgetragen, wie man das letzte Wort hat aus einer Bezugslosigkeit heraus, die einen freistellt von allem...
Eine solche gut vorgetragene Wahrheit ist dann aber in der Lage, über sich selbst hinaus – also über mich hinaus – von Bedeutung sein und Interesse zu wecken.

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IX. ... und noch ein Beispiel:

Auf den nächsten Seiten stelle ich 2 Zeichnungen von Werner Hartmann und Ausschnitte aus dem Text 1001 Geschichten eines Zeichenerzählers [15] über ihn vor.

Ein Zeichenerzähler ist doch sicher ein Erzähler, der seinen Zuhörern von Zeichen erzählt, sie beschreibt und erklärt?

"Hartmanns Zeichengeschichten lassen sich auch als Botschaften gegen die
Entzauberung der Welt lesen". Meine Sorge ist mehr die Entzauberung meiner Welt. Wenn ich die Zeichnungen erkläre, einzelne Darsteller benenne, dann sind die Zuhörer/Betrachter oft zugleich interessiert und enttäuscht.

"Von den kryptischen Bilderzählungen geht eine seltsame poetische Kraft aus. Sie können den Betrachter zur eigenen Imagination anregen. Sie können ihn aber auch, ohne die Bilderzählung entziffern zu wollen, ohne nach Funktion und Zweck zu suchen, einfach der Faszination des Geheimnisvollen überlassen."

Ich glaube schon, daß man meine Zeichnungen zuerst unter strukturalistischen und seriellen Gesichtspunkten wahrnimmt. Weil nicht nur einzelne Zeichnungen, sondern Anordnungen von Zeichnungen – Systeme – gezeigt werden. Und ich sehe das Risiko von Rätselsport. Allerdings habe ich beobachten können, das sich viele Betrachter doch einiges – ausreichend viel – erschließen können. Das mit der "poetischen Kraft" finde ich gar nicht schlecht: ich vergleiche meine Zeichnungen oft mit Gedichten, um die Art und Weise zu verdeutlichen, in der ich erzähle (in Abgrenzung zur Prosa).

"Auf die wortgewaltige und bildmächtige Kommunikation von heute antwortete er mit einem eigenen Hieroglyphen-Alphabet: mit abstrakt-unverständlichen, mitunter konkret-faßbaren Zeichen. ... Schrift und Sprache waren für Hartmann ein Spannungsfeld: »Symbolisch für das, was heute geschieht, ist meine geschriebene Sprache nicht verständlich, nicht entzifferbar (ich kann sie zwar sprechen)«. Obwohl er sich kryptisch mitteilend die Begegnung suchte, setzte er das Nichtverstandenwerden vorweg."
Zum einen widersprüchlich (wortgewaltig – nicht verständlich, mitteilend – Nicht verstanden werden wollen), zum anderen kann man das doch keinem ernsthaft wünschen...

"Seine Zeichengeschichten erzählen" - jetzt erzählen sie doch - "vom alltäglichen Leben als Aktion und Reaktion auf das, was um ihn herum geschah, lokal wie global. Es sind keine Ereignisprotokolle. Eher sind sie Ausdruck innerer Stimmungen und psychischer Regungen."
Wieso sind es dann keine Ereignisprotokolle; wenn man die Einschränkung braucht innere Ereignisprotokolle? Gibt es objektive Ereignisse?

"Seine Schriftzeichen, Wortbilder oder einfach Hieroglyphen erzählen Geschichten" – und auch wenn diese Geschichten persönlich sind, kann man doch nicht erst auf die Schriftzeichen hinweisen und dann so tun, als handle es sich um abstrakten Expressionismus. Entweder es handelt sich um kaligraphisch motiviertes, seriell gemeintes, aus der Motorik entwickeltes Arbeiten oder...

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"Unermüdlich setzte Hartmann Zeichen um Zeichen. Eines nach dem anderen, daneben oder darunter. Immer wieder neue. Alle von Hand niedergeschrieben. Keines ist daher mit anderen identisch. Jedes ist einmalig. Wie jeder Augenblick neu, auch anders ist."
Na toll.

"Damit widersetzte er sich den abgenutzten Mitteln und Klischees der Kommunikation. Ständig war er in einer Metamorphose begriffen. Manchmal fast beschwörend, manchmal akribisch auf Details achtend teilte er seine Botschaften mit."
usw.

Man ahnt es: ich finde den Text über Hartmann wenig gelungen.

Vielleicht liegt es daran, daß "die Schaffung des Gegenstands und die Schaffung und das vollständige Verständnis einer richtigen Vorstellung von dem Gegenstand ... sehr oft zu ein und demselben unteilbaren Vorgang..." gehören? [16]

Und, weil es nicht angehen kann (und auch sehr langweilig werden würde), den Produzenten der Kunst-Phänomene das alleinige Interpretations- und Behauptungsrecht einzuräumen, man den – schreibenden – Betrachtern einfach sagen muß, daß ein Kunstwerk nur betrachtet werden kann, indem man selber eines herstellt. [17]


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X. Anmerkungen


[1] Halbertsma, Marlite / Zijlmans, Kitty (Hrsg.): Gesichtspunkte - Kunstgeschichte heute. Berlin 1995, S. 11 zurück

[2] Halbertsma, Marlite / Zijlmans, Kitty (Hrsg.): Gesichtspunkte - Kunstgeschichte heute. Berlin 1995, S. 12 zurück

[3] Halbertsma / Zijlmans, S. 17 - 18 zurück

[4] Da müßte man wohl noch was zu sagen... Halbertsma / Zijlmans, S. 17 zurück

[5] Halbertsma / Zijlmans, S. 18 zurück

[6] Halbertsma / Zijlmans, S. 18zurück

[7] Wie wird man Kunstproduzent, bzw. wer ist ein Kunstproduzent? Bei den rückbezüglichen Definitionen der Systemtheorie eine eher müßige Frage. Wobei ich glaube, daß gerade die "Kunstproduzenten" sich am schwersten in ein "System" zusammenfassen lassen. Zu unterschiedlich ist die Motivation, die Notwendigkeit der Produktion von Objekten, bzw. Situationen oder der offensiven Definition von etwas als Kunst. Zu unterschiedlich sind die kommunikativen Bezugsrahmen... zurück

[8] Kann es sein, das Worte wie "Kommunikation" einfach nur eine Pest sind, alles verunklaren, weil sie einen vermeintlich wissenschaftlichen Anspruch haben, aber ihre präzise (so präzis es halt geht) Bedeutung nur im engen wissenschaftlichen Kontext hatten, nicht mehr aber in der Alltagssprache haben? zurück

[9] ein "radikaler Konstruktivist", u.a.: Der Kopf, die Welt,die Kunst. Konstruktivismus als Theorie und Praxis. Wien/Köln/Weimar 1992, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Franfurt am Main 1994 zurück

[10] mein Lieblings-Dadaist Walter Serner. Er hat sich allerdings bald vom Dadaismus losgesagt und in der 1927 überarbeitet erschienden Fassung von "Letzte Lockerung" alle Hinweise auf den Dadaismus getilgt. (Erstfassung von 1918!) zurück

[11] Alexander Roob: Theorie des Bildromans. Villa Massimo Rom 1997 zurück

[12] Hannes Böhringer: Begriffsfelder. Von der Philosophie zur Kunst. Berlin 1985, S. 50-51 zurück

[13] ... die natürlich nicht aus dem Nichts entsteht (Gesellschaft, Familie, Geschichte... - zu zeigen und nachvollziehbar zu machen. Also hochgradig selbstreferenziell zu sein. zurück
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[14] Ähnlich wie in einer verliebten Stimmung geraten alle anderen Dinge, die nicht dazugehören, aus dem Blickfeld. Es wird sehr symbiotisch, für andere nicht mehr nachvollziehbar. Es könnte sein, daß von außen betrachtet der Eindruck entsteht, eher zu stören, etwas intimes zu beobachten (vielleicht sogar zu erleben), was zwar nicht geheim ist, was sich aber auch nicht an den Betrachter richtet. ("Intim" taucht als Wort häufiger auf, wenn über meine Arbeit von anderen Worte gemacht werden).
Und wie ein Liebespaar schlecht zu kritisieren ist (was hast du dir denn da für einen Deppen angelacht?!), man einfach nur konstatiert: Na ja, glücklich scheinen sie ja zu sein. Verstehen kann ich es zwar nicht, wie die mit diesem Typen... aber was soll man sagen, wo die Liebe hinfällt..., so ist auch so eine Art künstlerisch zu arbeiten schlechterdings kaum zu kritisieren. Man mag grundsätzlich entscheiden, akzeptiere ich dieses Phänomen oder nicht, aber wer einmal sich dazu durchgerungen hat, es gelten zu lassen, kann es nur noch hinnehmen. Es geht eigentlich nicht, über die Sinnigkeit eines Zeichens oder über seine Anordnung auf dem Papier zu diskutieren... es sei den der andere läßt sich soweit auf diese Welt ein, daß er aus ihrer inneren "Logik" heraus argumentieren kann. (Aber wer hat nicht schon alles behauptet, einen zu verstehen) zurück

[15] Heini Ringger: 1001 Geschichten eines Zeichenerzählers. In: Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97, gefunden im Internet) zurück

[16] "... und lassen sich nicht trennen, ohne diesen zu unterbrechen." Aus: Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt am Main 1976, 1986, S.25 zurück

[17] "Beginnt man sein System nur ein klein wenig anders, als beim vorhergehenden Versuch, erhält man nach einiger Zeit eine Entwicklung, die von der vorigen völlig verschieden ist. Da man die Anfangsbedingungen nie ganz genau kennen kann, sind solche Systeme über einen bestimmten Zeitraum hinaus im Prinzip unvorhersagbar. Dies liegt allerdings nicht nur an der Meßunsicherheit, sondern auch an inneren Eigenschaften des Systems selbst.
Das System ist im Sinne von Berechnung irreduzibel - es gibt keinen kürzeren Weg, Informationen über das System zu erhalten, als den, es sich selbst entwickeln zu lassen. Die Erforschung solcher Systeme bezeichnet man als "deterministisches Chaos". Die Entdeckung solcher Systeme hat die wichtige Konsequenz, daß die in der klassischen Mechanik selbstverständliche Gleichsetzung von Vorhersagbarkeit und Detereminismus aufgegeben werden muß."
Aus: Ib Ravn: Chaos, Quarks und schwarze Löcher. ABC der Wissenschaft dtv 33011, S. 26 zurück
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Dank
Mit Armin Chodzinski, Diana Dietz, Konrad Jentzsch und Hinrich Schmieta habe ich über diesen Text gesprochen und verdanke ihren Anregungen einiges.

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