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ÜBER DIE GEBURT DER NERVOSITÄT UND EINEN WEG, SIE ZU MEISTERN
von Klaus Fischer

Telefon: das Kunstwort, nicht ungeschickt zusammengesetzt aus zwei griechischen Bestandteilen, hat die Welt erobert, wohingegen der nicht minder treffenden deutschen Bezeichnung Fernsprecher kein Erfolg beschieden war. Wir sprechen von einer Erfindung mit einer imposanten Ahnengalerie, einer fast heroischen Vergangenheit. Da ist die Fackeltelegraphie der alten Griechen. Da sind die Buschtrommler in den Wäldern Amazoniens und Äquatorialafrikas. Die Leuchttürme, die Bergfeuer der Alpenbewohner, die Flaggen und Wimpel von Ruder- und Segelschiffen. Ein Bedürfnis war da - das nach Verständigung über weite Distanzen hinweg - und wollte gestillt werden, so gingen die Erfinder an die Arbeit: Optischer Telegraph von Chiappe, 1794, elektrochemischer Telegraph von Sömmering, 1809, Nadeltelegraph von Gauß und Weber, 1833, das Telephon von Reis, 1861, das Telefon von Bell, 1877.

Vor rund hundert Jahren war es endlich ersonnen, das Wunderwerk, das Sender ist, Empfänger, und sogar - mit seinen in Spulen erzeugten Magnetinduktionsströmen - Stromquelle. Man kann sich das Erstaunen der Zeitgenossen vorstellen, gerade heute, wo eine große Energiedebatte alle Heilsbotschaften verdrängt. Sender! Empfänger! Stromquelle! Das Telefon überwindet die Räume, komprimiert die Zeit und ist - was Technikern besonders gefällt - vollkommen wertneutral. Man kann durchs Telefon ein plärrendes Kind beruhigen, eine Mieterhöhung ankündigen, einen Hinrichtungsbefehl durchgeben. Allen Liebenden des späten 20. Jahrhunderts ist der nach langem, erregtem Liebesgeflüster eintretende Telefonorgasmus bekannt.

Bedeutende Erfindungen haben ihren Preis; was hat die Menschheit für das Telefon bezahlen müssen? Nun ich glaube, daß der Fernsprechverkehr die Begeisterungsfähigkeit reduziert, den Enthusiasmus ausgehöhlt, die Fähigkeit zur Ekstase drastisch eingeschränkt hat. Telefonbenutzer haben weder Zustände noch Gesichte. Wo heute noch halluziniert wird oder Verklärungen stattfinden, wie in der heiligen Stadt Ghom, in Lourdes und Konnersreuth, ist die Telefondichte gering.

Ich blättere in den Briefen von D. H. Lawrence und lese: Wir haben hier ganz wunderschönes Wetter, so warm und strahlend. Noch nie habe ich etwas so Schönes gesehen, wie in diesem Jahr den Ginster und die Schlehen. Der Ginster lodert in Fahnen gelben Feuers, und die Schlehen sind wie weißer Rauch, der die Talmulde anfüllt. Schlüsselblumen und Veilchen sind alle draußen, und die blauen Hasenglöckchen kommen gerade hervor. Die Sonne geht eben in einer goldenen Flut unter. Man würde sich garnicht wundern, sähe man die Cherubim mit Flammenfittichen aus dem Westen zu uns kommen. Irgendwie scheint man die ganze Zeit eine Ankunft aus dem Jenseits, aus der Himmelswelt zu erwarten. Das Gefühl, daß irgend etwas sich naht, irgendein Prächtiger, ist so stark: es wäre kein Wunder, hätte man himmlische Gesichte.

Das wurde im Mai 1917 in dem kleinen ländlichen Flecken Zennor bei St. Ives in Cornwall geschrieben, wo Lawrence und Frieda von Richthofen ein Häuschen (Jahresmiete 5 Pfund) bewohnten. Hätten Lawrence und die Empfängerin dieses Briefs, Catherine Carswell, ein Telefon besessen, wir wüßten heute nicht, daß der Verfasser von Sons and Lovers von Engeln mit sechs Flügeln träumte - Heilsbringern, die aus dem Westen kommen. Der Fernsprecher ist kein Medium für die Durchgabe erhabener Gefühle.

Ein paar Sätze über die beiden Telefonapparate, in deren Umkreis Alfonso Hüppis Telefonzeichnungen entstehen. Das eine befindet sich in seinem Atelier, Baden-Baden, Leopoldstraße 19. (Leopold war ein halbverrückter Großherzog, an dem die Badener schuldbewußt hängen, denn sie haben seine Broncestatue im letzten Krieg eingeschmolzen). Leopoldstraße 19 ist ein mächtiger Trumm von Mietshaus im Besitz einer Diakonissenanstalt, dermaleinst, in der Belle Epoque, Pension Haus Salem. Hinter dem Miethaus steht ein Häuschen, das vor siebzig Jahren wohl eine Doppelfunktion hatte: es war die Waschküche der Pension und die kärgliche Wohnung des Hausverwalters. Später war die finstere Baude Abstellraum, Bastelschuppen, das Heim einer bedürftigen alten Dame.

Hüppi eroberte sich sein von ihm weiß gestrichenes Atelier, wie es seine Art ist, langsam, stückchenweise, methodisch. Am Ende war er der Alleinmieter des Holzschopfes. Seine Telefonnummer war 07221/25993. Ich schreibe war, denn in diesen Tagen zieht Hüppi, dem es in der oberen Leopoldstraße zu eng wird, in ein Fabrikgelände nach Baden-Oos um; ob er seine Telefonnummer behalten darf, hängt vom guten Willen der Post ab.

Betrachtet man die Vielzahl der Holzreliefs und Bilder, Grafiken und Zeichnungen, die in der Leopoldstraße entstanden sind, dann drängt sich der Eindruck auf, daß Hüppi seinem Atelier das letzte abverlangt und es ausgewrungen hat wie ein feuchtes Handtuch. Seit seinem Weggang ist es nur noch die morsche Hülse von einer Baude - beinahe jämmerlich in seiner mürben Kraftlosigkeit.

Alfonso Hüppis zweiter Telefonanschluß trägt die Nummer 0 7221/ 2 95 20 und verbindet die Wohnung Otto-von-Vincenti-Straße 30 mit der Außenwelt. (Wer Herr von Vincenti war, nach dem die selbstbewußte Villenstraße benannt ist, weiß in Baden-Baden außer der Stadtarchivarin niemand mehr). Auch das Haus Staudacher, in dem Familie Hüppi die Beletage bewohnt, ist im Grunde eine enorme Baude - ein Schwarzwald-Holzschopf mit Loggia, Ziergärtlein und einer Kellerwohnung für bedürftige Mieter. Von Hüppis Salon aus hat man einen beeindruckenden Ausblick auf Schloß, Stiftskirche, ein Altenheim für soignierte Witwen und sanft zur Talsohle hin abfallende Wiesenmatten in frommem Besitz, bestanden mit schiefen, knorrigen Schwarzwaldobstbäumen.

Das hellgraue Telefon steht in Hüppis Schlafzimmer auf einer Stellage, kann aber, da an ein 6 m langes Kabel angeschlossen, auch in allen anderen Räumen der Wohnung einschließlich Küche und Bad benutzt werden. Alle Zimmer führen auf die Diele, wie in der Wohnung in Sursee (Kanton Luzern), in der Alfonso Hüppi aufwuchs. Das mutet heimelig-altmodisch an. Man kann im Hause Staudacher schlecht Individual- und schon gar keine Geheimgespräche führen: die Familie hört meist mit.

Alfonso Hüppi meldet sich am Telefon mit seinem Familiennamen, betont sehr stark den Umlaut ü und zieht das i am Namensende leicht in die Höhe. Der Effekt (ein sicherlich gewollter Abgrenzungseffekt) ist ein wenig exotisch. Man denkt an ein Segelflugzeug, das von einem weichen Voralpenrasen abhebt. Der Ton seiner Stimme ist freundlich-gastlich-einladend. Frau Brigitta Hüppi meldet sich mit ihrem vollen Namen oder sie sagt Ja? was den Anrufer verwirrt (es klingt nicht immer sehr gesprächsbereit).

Hat der Anrufer dann seinen Namen gesagt, dann gibt Brigitta Hüppis zweiter Satz, meist eine Exklamation, haargenau Auskunft über die Gefühle, die sie dem Telefonpartner entgegenbringt. Sie kann sich nicht verstellen. Hingegen versteht sich Hüppi als Schweizer und ordentlicher Professor natürlich darauf, sein Empfinden zu verbergen und meisterlich zu nüancieren. Die Söhne Tadeusz und Johannes melden sich heiter, fröhlich, sans facon.

Zu den weiteren Benutzern des Anschlusses 07221/29520 zählen Freunde und Bekannte der Hüppis, die einen Besuch machen, der überaus gastlichen Wohnungsinhaber in lange Gespräche verwickeln, ihm eine Theorie unterbreiten oder ein Geschäft vorschlagen, dann das Telefon erblicken und prompt das Bedürfnis empfinden, ihre Frau, ihre Sekretärin und ihren in Berlin lebenden Bruder anzurufen. Sie sagen Darf ich mal? bzw. Kann ich mal?, blättern in ihrem Telefonbüchlein und wählen dann die Vorwahlnummer von Zürich, Düsseldorf oder London. Hat der Gast den Hörer länger als zwanzig Minuten in der Hand, dann sehe ich auf Alfonso Hüppis sensibler Stirn die kleinen Migränefältchen, die Streß signalisieren.

Vor beiden Hüppi-Telefonen - in der Leopold- und in der Vincentistraße - liegen weiße Blöcke und Skizzenbücher; man nimmt sie nur bei genauem Hinschauen wahr, in dem kunstvollen Durcheinander von Büchern, Katalogen, Briefen, Billetten, Rechnungen und Notizen. Sie dienen Hüppi dazu, sich zu sammeln, wenn der oder die am anderen Leitungsende zu lange spricht oder zu seicht ist. Das Telefon hat, so sagte ich, den Gesichten und der Verklärung den Garaus gemacht. Es zwingt, indem es alle planetarischen Vorgänge privatisiert, zur Konzentration. Das Korrelat von Konzentration ist Entspannung, die Abfuhr nervöser Energie. Hüppis Telefonzeichnungen fangen diese Energie ein. Der Streß findet in ihnen eine künstlerische Form - wie einst die Töne auf Ernst Chladnis mit feinem Sand bestreuten schwingenden Platten. Sie entprivatisieren das hundert Jahre alte Medium. Man ist für diese neue Nutzung einer nicht mehr neuen Erfindung dankbar.


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