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SCHWEIGEN IST HEILIG
Ein Text von Tobias Hülswitt über Rezidenz Stipendien

Wenn wir ankommen in unseren Stipendien, sind wir sofort eine große Familie, Gesieze gibt es da nicht. Ohne unsere neuen Familienangehörigen zu kennen, verraten wir ihnen ohne Umschweife unsere intimsten Geheimnisse und bekommen dafür von ihnen ihre verraten, aus denen wir gleich neue Kurzgeschichten machen. Nein, ganz so ist es nicht.

In Wahrheit reden wir nur über eines: Literatur. Als erstes machen wir klar, was wir bereits alles gelesen haben, was wir gerade lesen, welche Autoren wir für phantastisch und welche wir für völlig beschissen halten. Zwischenstufen gibt es keine. Da wir, die Hochbegabten, seit dem Laufstallalter lesen, nimmt die Lektüreaufzählung Stunden in Anspruch, oft den ganzen ersten Tag. Ab dem zweiten Tag berichten wir von unseren aktuellen Projekten, von unseren Krisen und unseren Fluchtphasen. Gegenseitig helfen wir uns weiter. Das ist natürlich ein Scherz.

Im Grunde reden wir so gut wie nie über Literatur. Wir machen zusammen Sport und genießen die Gegend, wir gehen vor dem Frühstück in der Gruppe schwimmen, später Fahrrad fahren und am Abend joggen. Dann treffen wir uns im Restaurant und essen und trinken bis in die Nacht. Nein, halt: Nachts schauen wir fern! Wir verständigen uns über das Fernsehprogramm, und wenn es dunkel wird, schauen wir alle, jeder in seinem Zimmer, vor seinem Apparat, den gleichen Film – oder ist das dann derselbe?

Auch das ist nicht ganz wahr. Die Wahrheit ist, wir sitzen den ganzen Tag vorm Computer, wollen nicht gestört werden und reden mit niemandem, selbst wenn wir heimlich eine Sehnsucht nach Gesellschaft haben. Denn für Trost durch Gesellschaft sind wir schon lange zu professionell. Und selbst wenn wir wollten – auch die anderen sitzen vor ihren Computern und wollen nicht gestört werden, den ganzen Tag. Wenn wir durchs Haus gehen, hallen unsere Schritte ins Leere.

Obwohl – manchmal begegnen wir uns. Dann sitzen wir im Wintergarten und schauen auf den See, der glitzert, bis die Sonne mit ihrem Untergang fertig ist. Und schweigen. Mit einem Lyriker neben sich schweigen ist heilig. Ein Gedicht entsteht. Wir selber aber wollen dann keine Schriftsteller mehr sein. In Gedanken sind wir längst Villenbesitzer, unten am Steg liegt unsere Yacht. Adelig wäre auch nicht schlecht.

Das ist natürlich eine Idealvorstellung. Im Grunde können wir gar nicht sagen, wie’s im Stipendium ist, denn im Grunde sind wir nie da. Wir holen am Ersten unser Geld und müssen dann weiter, Projekte verfolgen oder ins nächste Stipendium. Nämlich, ein Stipendiatenleben ist ein Getriebenenleben. Häufig werden wir Alkoholiker.

Das ist natürlich alles Quatsch. Ich will jetzt einmal sagen, wie’s mit uns Stipendiaten wirklich ist: Wir werden uns die engsten, ja sogar liebsten Freunde und sehen uns, wenn das Stipendium vorüber ist, im Leben nicht wieder.


(FAZ, Dienstag, 22. Januar 2002, Nr. 18 / Seite 47 – Tobias Hülswitt, geboren 1973, veröffentlichte zuletzt den Roman „Saga“ (2000))

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