Texte aus dem Jahr 2000
 

Michael Glasmeier
Text einer Rede von Michael Glasmeier - gehalten anläßlich der Preisverleihung des Peter Voigt Reisestipendiums 1999 für NYC


Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Studentinnen und Studenten,
liebe Jolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde.

Als ich vor dreieinhalb Jahren hier an die Hochschule kam und frisch, aber verunsichert Lehre betreiben sollte, saß in meinem Seminar über die Farbe Weiß, also über das Nichts und seine Möglichkeiten, ab und zu ein Student mit Mütze, besser mit Schirmkappe.
Er hörte zu und beantwortete meine oft naiven schulmeisterlichen Fragen, mit denen ich eigentlich in eine Diskussion eintreten wollte, immer dann, wenn alles schwieg, also dann, wenn nach einer Frage dieses bedrohliche Schweigen im Raum herumsteht, wenn ich also nicht wusste, ob meine Frage zu dämlich oder zu schlau war. Ansonsten kritzelte dieser Hannes Kater weißes Papier voll, praktizierte also die Theorie des Seminars.

Texte aus diesem Katalog
finden sie hier
Nun, ich kritzele auch, wenn andere Vorträge halten oder in Sitzungen. Dennoch würde ich mich nicht trauen, jene leicht verträumte, vom Automatismus beseelte Handlung als Kunst zu zeigen; denn ich bin kein Künstler. Aber schon ein Blick in die Kunstgeschichte, nicht nur der Moderne, sondern auch der Alten Meister, belegt eindeutig, dass ein solches Gekritzel nicht nur eine besondere Form von Zeichnung ist, sondern eben auch eine Haltung. So reiste 1980 eine Ausstellung zum Thema Telefonzeichnungen durch Deutschland mit Werken von Franz Eggenschwiler, Alfonso Hüppi und Dieter Roth. Dazu erschien ein vierbändiger Katalog*, der u.a. mit einem Essay von Michael Schwarz versehen war. Und das ist doch eigenartig, wenn eine eher schnelllebige, en passant-Angelegenheit sich zu vier Bänden auswächst, wovon einer ausschließlich der Theorie verschrieben war.

Wie wir wissen, wurde der Automatismus durch den Surrealismus nobilitiert, da er die Psyche des Künstlers mittransferiert und jenes berühmte Kunstwollen zumindest fragwürdig werden ließ. Es entsteht beim Gekritzel auf dem Papier ein Raum, der halluziniert, der schwankt, der nicht greifbar ist, der also einerseits nicht zu etwas führt wie in der Zeichnung als Vorstufe, als Skizze, als Disegno, andererseits aber auch nicht als abgeschlossen gelten kann, wie in der Zeichnung als Medium, da in ihm das unendliche Wuchern angelegt ist. Dieses wiederum ist Resultat der halbherzigen Aufmerksamkeit. Wenn wir beim Telefonieren, in Seminaren, beim Musikhören usw. kritzeln, oszilliert unsere Konzentration, sie schwankt zwischen Selbstvergessenheit und höchster Wahrnehmung.

Daraus ergibt sich ein
unendlicher Rapport, ähnlich einer Chaconne. So wie hier sich eine musikalische Linie als freischwebend, aber doch abhängig definiert, so ähnlich funktionieren diese Kritzeleien. Ich möchte das gern akustisch, d.h. durch ein anderes Medium illustrieren. Stellen wir uns also beim Hören vor, dass das Basso continuo in seiner ständigen Wiederholung das Seminar, der Vortrag etc. ist und die Violine die Linienführung des Stiftes auf dem Papier. Hören wir also eine Chaconne aus den “Sonatae unarum fidium” von Johann Heinrich Schmelzer, erschienen 1664, hier interpretiert von John Holloway, Violine, Aloysia Assenbaum, Orgel und Lars Ulrik Mortensen, Cembalo.

Während Michael Glasmeier seine Rede unterbricht um die Musik vorzuspielen, verteilt Hannes Kater an alle anwesenden Zuhörer Zeichnungen, an jeden der knapp 70 Gäste eine andere.

Glasmeier nimmt nach der musikalischen Unterbrechung seine Rede wieder auf:
Sie merken, dass so eine Chaconne etwas manisches hat, dass sie Raum und Zeit besetzt und die Emotionen, das Tänzerische, an die Linienführung abgegeben hat. Diese schwankt zwischen Thema und Improvissation, zwischen Wiederholung und Variation wie die Kritzeleien auch.

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In meinen Seminaren war der Mann mit der Mütze dann nicht mehr. Nur gelegentlich traf ich ihn wieder, wenn es um die Organisation irgendwelcher Ausstellungen ging. Offensichtlich war und ist er sehr aktiv, was die Kommunikation zwecks Ausstellungen betrifft. Hannes Kater ist kein Künstler des Rückzugs auf die eigene Position. Er sucht die Begegnungen, macht und tut. Solche Personen bleiben in Institutionen immer eine Ausnahme. Nicht vielen liegt die Selbstausbeutung, und es muss gesagt werden, dass seine Mitarbeit an Unternehmungen wie Kleine Unisversen* (1996), Das innere Leuchten checken* (1997) oder jetzt an From B to A an further* zu den interessantesten Ausstellungsunternehmungen gehören, die ich an dieser Hochschule sah. Letztere brachte etwas zustande, das selten ist, nämlich den Aufbruch vom Kojendenken der Künstler hin zu einem durchsichtigen Miteinander. Auch hierfür sei Hannes Kater gelobt.

Zurück in den Kritzelraum. Für die Präsentation der Diplomarbeit von Hannes Kater war ein reichlicher Aufwand nötig. Der Galerieraum wurde komplett verdunkelt, und wir sahen Projektionen des Gekritzels.
Der Raum besaß etwas Feierliches, Großzügiges, während an den Wänden rätzelhafte Botschaften strahlten. Wucherungen eben, aber detailliert. Ein mysteriöser Lichtraum. Einige Zeichen schienen sich zu wiederholen, anderes ergänzte sich, verweigerte sich. Da sich das Rätselhafte nicht entdecken wollte, versuchte der Künstler, sein System im persönlichen Gespräch zu erklären. Denn bestimmte Zeichen besaßen für ihn Signalcharakter wie Piktogramme. Doch waren es eben persönliche, die der Betrachter zwar lernen konnte... Aber wer will schon eine Sprache lernen, die nur für einen Zweck zu gebrauchen ist.

Hannes Kater schreibt über seine Methode (Zitat): "Ich setze Zeichen in Relation, verknüpfe sie und schaffe so Verhältnisse.
Zeichen, die sich aufdrängen, verwende ich häufiger und entwickle sie weiter. Ich nenne sie Darsteller.
Aber nicht wie ich die Zeichen ins Verhältnis setze ist für mich entscheidend:
Es gibt keine sichere Deutungsebene für die einzelne Zeichnung. Es gibt keine vollständige Legende zu den Zeichen einer einzelnen Zeichnung.
Wichtiger als jedes Deutungsresultat eines Zeichensystems einer Zeichnung ist die Erkenntnis des Deutungsverfahrens, das Grundlage für die Entscheidungen während des Zeichnens ist."
(Zitat Ende)

Aus dem Gekritzel entwickelt sich
ein System, das immer dann entsteht, wenn Automatismus im Spiel ist. Die räumlichen Wucherungen, die Hannes Kater inszeniert, greifen Methoden der Bilderzählung auf, wie wir sie seit der Renaissance kennen. Das Bild ist der Raum, seine Teile sind nicht durch eine Perspektive oder Horizontlinie definiert, sondern schaffen eine zeitliche Dimension des Nach- und Nebeneinander. Kurz: des Künstlers Polyfokalität lädt den Betrachter zum Bilderlesen ein, zum Entwickeln einer eigenen Story im Unbekannten.

Der 1990 verstorbene Kunsthistoriker André Chastel weist in seiner kurzen Geschichte der Groteske nach, wie eng verwandt die frühen Karikaturen der Renaissance, also der Kritzeleien, mit jenen Ornamenten waren, die inspiriert von der römischen domus aurea des Kaisers Nero, seit dem 15. Jahrhundert in den Gebäuden wucherten, alles bedeckten mit Ungeheuerlichkeiten, Seltsamkeiten, mit verschlungenen Wegen einer Kunst, die auch damals nicht lesbar war und
dennoch Geschichten erzählten. In dieser Tradition des Zügellosen, wie Chastel das nennt, sehe ich die Kunst von Hannes Kater. Sie ist ein Befreiungsschlag gegen das Zielgerichtete auf der Grundlage eines Imperiums des Wucherns.

Auch wenn Hannes Kater seine Artikulationen zumindest mit dem Computer oder virtuell so weit treibt, das das Räumliche in den Zeichnungen verschwindet, die Zügellosigkeit überbordet, so bleibt doch die Chaconne als Elexier, nur dass sie bei Hannes Kater sich in letzter Zeit mehr und mehr dem Basso continuo verbindet, mit dem Seminar, dem Vortrag. In den jüngsten Arbeiten wird eine Wechselbeziehung sichtbar zwischen Linie und Grund. Und ich wünsche mir, dass Hannes Kater sein Stipendium dazu nutzt, diese Wechselbeziehung weiter auszubauen. In Amerika heißen die Kritzeleien übrigens
Doodles. Die Linie sollte also nicht mehr über dem ostinato schweben, sondern interagieren.

Auch dafür habe ich ein musikalisches Beispiel mitgebracht, das wir zum Schluss anhören sollten, auch um diesen Festakt noch festlicher zu machen. Hören wir also jetzt eine Chaconne von antonio Bertali aus dem 17. Jahrhundert in voller Länge. Die Interpreten sind dieselben wie bei Schmelzer.

Die angekündigte Musik erklingt...

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